Die erste Reise - Ein Wolf in Skopje
In den Osterferien hat Frau Carstens eine Reise gemacht. Das genaue Ziel: Butelsci Venec 39 in Skopje. Die aktuelle Adresse unseres Klassenkameraden Zijush. Damit wir die Reise auch aus Bremerhaven mitverfolgen konnten, hat sie ein Maskottchen mitgenommen "Watson" den Fuchs (Wölfe gab es im Laden leider nicht). Von Watsons Reise hat sie fleißig Bilder gemacht, damit wir jederzeit auf ihrem WhatsApp-Status sehen konnten, wo die beiden sind, was sie erleben und Fragen stellen konnten, wenn wir etwas genauer wissen wollten. Mit dabei war natürlich auch Allegra und einer ihrer Kollegen, die auch Filmaufnahmen und Interviews vor Ort gemacht haben.
Es gibt Teile von Skopje, die sind sehr schön. Voller Marmor, Springbrunnen, großer Statuen und kleiner Cafés und Restaurants, die Touristen, Mazedonier und Besucher zum Verweilen einladen.
Eine der vielen Seiten von Skopje. Nicht die Seite der Roma. Nicht die Seite Zijushs. Die liegt zwar nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt und ist dennoch eine andere Welt.
Zijush lebt jetzt in Shutka - einem Stadtteil von Skopje und eine der größten Romasiedlungen der Welt. Shutka ist ein Slum, die Häuser sind nicht aus Marmor, Springbrunnen oder Statuen gibt es dort auch nicht. Dafür gibt es Armut, entsetzlich viel Armut, so wie wir sie in Deutschland gar nicht kennen.
Zunächst mal war die Familie von Zijush völlig fassungslos, dass der Besuch aus Deutschland wirklich gekommen war und sie freuten sich, sie freuten sich riesig.
Sie erzählten, von ihrer Reise zurück, vom Ankommen in Shutka und allem, was sie erlebt haben, seit sie Deutschland verlassen mussten.
Teil all dieser Geschichten, sind immer wieder Armut, Diskriminierung und Angst. Sie hatten noch Glück im Unglück, konnten bei den Großeltern unterkommen, in einem bescheidenen Haus, in dem es aber zumindest Wasser gibt und meistens auch Strom (das ist in Shutka keine Selbstverständlichkeit). Gleich am nächsten Tag machte sich die kleine Reisegesellschaft in Begleitung von Zijushs Vater Djevat auf, um Shutka besser kennen zu lernen.
Zunächst mal ging es zu Zijushs Schule. Einer Schule im Slum - einer Schule nur für Roma. Dort gibt es nur wenige Gemeinsamkeiten, mit Schulen in Deutschland. Es gibt ein Schulgebäude, einen Pausenhof, Schüler und Lehrer - da hören die Gemeinsamkeiten dann eigentlich auch schon auf.
Begrüßt wird man am Eingang von einem Sicherheitsdienst, der auf einem alten Bildschirm, die Aufnahmen der zahlreichen Überwachungskameras im Auge hat und über Besucher wenig erfreut ist.
Viele Räume (auch im Obergeschoss) haben keine Fenster, davon übrig sind scharfkantige Scherben, durch die man hinaussehen kann. Die Klassenräume sind sehr bescheiden, nur wenige Schüler sind zu sehen. Die Turnhalle ist sehr klein, teilweise voller Wasser aber voller Schüler, die Notausgänge mit schweren Schlössern verriegelt, sodass keiner raus kann.
Die Toiletten haben kaum noch Türen (diese liegen neben oder in den Kabinen), die Wände sind mit Schimmel und Wasserflecken überzogen. Auf dem Schulhof gibt es Gerümpel, ein Autowrack und die Reste eines Fußballtors, das zweite ist verschwunden. Solche Schulen kennen wir in Deutschland gar nicht nicht.
„Wo sind die Fenster“
Frau Carstens war ganz fassungslos. Sie fing dann an, Fragen zu stellen - Frau Carstens hat immer sehr viele Fragen Warum kann man keinen Kopierer kaufen? Wo sind die denn Fenster? Was, wenn es im Winter kalt wird? Warum werden die Kinder eingesperrt? Wo sind die Lehrer? Warum können wir nicht mit der Schulleitung sprechen?
Djevat musste über diese Fragen meist nur verbittert grinsen - „Wir sind Roma, Frau Carstens. Niemanden interessiert das!“
„Wir sind Roma, Frau Carstens. Niemanden interessiert das!“
Zijush darf das Haus nur verlassen, um zur Schule zu gehen. Das liegt daran, Shutka für Roma gefährlich ist. Zijush wurde vor einigen Wochen von einer Gruppe Erwachsener so schlimm verprügelt, das sein Vater ihm einen Schlagstock kaufen musste, damit er sich beim nächsten Mal wehren kann.
Warum das passiert ist? "Wir sind Roma, Frau Carstens. Roma darf man verprügeln." Die Polizei kommt nicht für Roma und schon gar nicht nach Shutka - man muss sich selber helfen.
Nun ist also klar, die Schule ist schlimm, sehr schlimm. Es gibt meist nur zwischen zwei und drei Unterrichtsstunden am Tag. Aber es ist eine Schule - leider darf aber auch nicht jedes Kind in Shutka besuchen.
Das erzählt später am Tag Aida, die Leiterin einer NGO im Stadtteil. Viele Kinder haben keine Kleidung, keine Schuhe, sind schmutzig, weil es kein Wasser gibt und sie müssen ihren Eltern helfen, Geld zu verdienen. Sie stehen schon morgens um vier auf Mülldeponien auf der Suche nach Metall oder Plastik oder betteln, um sich von dem wenigen Geld Nahrung oder Medikamente zu kaufen. Eigentlich ist das verboten, so sagen sie das auch im Fernsehen. Die Wirklichkeit ist eine andere.
Es fällt auf, dass viele Deutsch sprechen - sie alle haben ähnliche Geschichten, wie Zijush. Waren in Deutschland, gingen dort oft zur Schule oder zur Arbeit und mussten schlussendlich doch zurück nach Shutka. Ein Teufelskreis.
Die politische Lage in Mazedonien ist sehr unsicher, das Misstrauen der Menschen ist groß. Über Politik wollen sie eigentlich nicht sprechen und dennoch ist die erste Frage aller "In welcher Partei bist du?"
Täglich gibt es Demonstrationen und Aufmärsche, oft enden diese gewaltsam. Politisch kaum vertreten, Roma. Auch die Korruption kennt keine Grenzen.
Als Frau Carstens darum bat mit dem Schulleiter, dem Bürgermeister oder Regierungsangestellten zu sprechen, haben alle nur gelacht. "Sie werden dir nicht zuhören. Wenn du ihnen Geld für Shutka gibst, wird es nicht ankommen, weil sie es selbst nehmen." Eine schwierige Situation.
Trotz ihrer Verzweiflung sind die Menschen sehr herzlich. Fremde laden einen zu sich nach Hause ein, um Kaffee zu trinken, möchten ihre Geschichten erzählen. Die meisten Geschichten sind ähnlich. Sie erzählen von Versuchen dort weg zu kommen, ihren Kindern eine Perspektive in Deutschland zu geben - in Mazedonien hast du als Roma keine Chance. Die Leute erkennen, wo du herkommst, hören deinen Akzent, dein Pass ist markiert. Für Roma gibt es keine Arbeit, keinen Ausweg und keine Perspektive.
Trotzdem haben sie nicht aufgegeben, das wenige was sie haben, teilen sie mit ihren Gästen aus Deutschland, empfangen sie, wie alte Bekannte.
Auch wenn die Reise viele weitere Fragen aufgeworfen hat, haben Frau Carstens und Zijush viele unserer Fragen aus Deutschland beantwortet (auf jedem unserer Zettel hat er eine Botschaft hinterlassen). Er konnte kaum fassen, dass wir ihn nicht vergessen haben, das war aber auch nicht leicht für ihn. Als Allegra und Frau Carstens mit ihm und seiner Familie die Filmaufnahmen aus Deutschland gesehen haben, haben alle sehr geweint. Die Erinnerung tut weh... Abschied nehmen auch.
Auch dieses Mal, als Frau Carstens und Allegra auf Wiedersehen sagen mussten. Auch wenn es im Sommer bereits ein Wiedersehen in Shutka geben wird, dann mit Rebal. Und auch dann mit einer Kamera, um auch diese Geschichte nach Deutschland zu tragen, so dass alle sie sehen können. Damit auch andere nicht vergessen, dass es Zijush gibt - weit weg in Shutka.